Für die Bundesregierung war Deniz Yücel ein Journalist, der allein wegen seiner Berichte im Gefängnis saß. Die türkische Regierung nannte ihn dagegen „Agentterrorist“. Über sein gleichnamiges Buch sprach er mit der DW.
Von Februar 2017 an befand sich der damalige Türkei-Korrespondent der „Welt“, Deniz Yücel, 367 Tage in türkischer Untersuchungshaft. Terrorpropaganda lautete der Vorwurf der Ermittler. Am 16. Februar 2018 wurde Yücel freigelassen und konnte noch am selben Tag nach Deutschland zurückkehren. Mitte Oktober wird wieder in Abwesenheit gegen Deniz Yücel in der Türkei verhandelt. Bis zu 18 Jahren Haft drohen dem Journalisten bei einer Verurteilung. Sein Buch „Agentterrorist“ über seine Haftzeit gibt Einblicke in das politische System der Türkei.
DW: Hohe Vertreter des türkischen Staates haben Sie immer wieder als „Agentterrorist“ bezeichnet. Genauso haben Sie auch Ihr neues Buch genannt. Was haben Sie sich bei der Namensgebung gedacht?
Deniz Yücel: Dieser Begriff „Agentterrorist“ stammt vom türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Als ich einen Titel für mein Buch suchte, dachte ich: Es würde sich nicht gehören, dieses Geschenk abzulehnen. Die Urheberrechte gehören also Erdogan.
DW: Wir könnten jetzt über viele Dinge sprechen – über das Gerichtsverfahren, ihre Festnahme. Fangen wir aber ganz am Ende an: Wie war es möglich, dass ein „Agentterrorist“, der mehrfach angeklagt ist, plötzlich frei gelassen wird?
Interessant, nicht wahr? In der Tageszeitung „Sabah“ zum Beispiel wurde ich als „Agentterrorist“ verhaftet und als „Journalist und Türkei-Korrespondent der Tageszeitung ‚Die Welt'“ freigelassen. Ich wurde verhaftet, weil sich die türkische Regierung und Erdogan persönlich davon einen Vorteil erhofft haben. Und genauso war es bei meiner Freilassung. Auch das war eine politische Entscheidung. Ich weiß, dass das zuständige Gericht eine Anweisung erhielt, mich laufen zu lassen. Nicht nur meine Verhaftung war rechtswidrig, sondern auch die Umstände meiner Freilassung waren es.
Es gibt zwischen der Türkei und Deutschland viel Handel in der Rüstungsindustrie. In Ihrem Buch betonen Sie – genau wie Sie es auch im Gefängnis getan hatten – Deniz Yücel und Panzer könne man nicht im selben Satz benutzen. Außerdem wurde behauptet, dass es einen Tausch zwischen Ihnen und Anhängern der Gülen-Bewegung gegeben habe. Ist das wahr?
Tayyip Erdogan hat sich gedacht: „Wenn dieser Mann Deutschland so wichtig ist, dann sollten wir den nicht umsonst hergeben.“ Wie der Journalist Ahmet Şık immer wieder betont: In der Türkei herrscht ein Gangsterregime und der Mafiaboss heißt Tayyip Erdogan. Darum versuchte er zuerst einen Austausch: „Gebt uns den und den General und ihr kriegt dafür Deniz.“ Irgendwann konnte Gerhard Schröder ihn überzeugen, dass so ein Austausch unmöglich ist. Darauf sagte sich Erdogan: „Na gut, dann wollen etwas anderes, Waffen zum Beispiel. Umsonst kriegen sie den jedenfalls nicht.“ So denken und handeln Gangster. Aber den Angaben verschiedener Behörden und der deutschen Regierung zufolge gab es einen solchen Deal nicht. Das wurde mir mehrmals auf meine Nachfragen hin bestätigt.
Kommen wir zu Ihrer Anklageschrift. Es wurden Ihnen vor allem Ihre Artikel zur Last gelegt. Unter anderem haben Sie ein Interview mit dem PKK-Funktionär Cemil Bayik gemacht. Gab es jemals Momente, in denen Sie plötzlich wegen Ihrer Arbeit unsicher waren, sich selbst hinterfragt haben?
Klar, das dürften alle Kollegen kennen: Mal bist du selber mit deiner Arbeit sehr zufrieden, mal denkst du: „Naja, das war jetzt kein Glanzstück.“ Aber ganz grundsätzliche Zweifel hatte ich keine. Ich habe nie gedacht: „Wäre ich doch nicht nach Kandil (zum PKK-Hauptquartier – Anm. d. Red.) gegangen“ oder „Wäre ich in der Putschnacht im Juli 2016 doch nicht einer der wenigen ausländischen Journalisten auf den Straßen Istanbuls gewesen“. Das ist mein Job. Und für Journalisten war die Türkei noch nie ein leichtes Terrain.
Hatten Sie damals gedacht, dass sich der Prozess so lange hinziehen würde?
Nicht so lange, nein. Aber damit stand ich nicht allein. Auch deutsche Politiker, Diplomaten, Anwälte, Journalisten haben das nicht erwartet. Jeder, dem ich im Polizeigewahrsam begegnete, sagte: „Dich können sie nicht einsperren.“ Konnten sie aber. Dann hieß es: „Dich können sie nicht so lange festhalten“ – doch, konnten sie auch. Hinter dieser Einschätzung steckte folgender Gedanke: Die Türkei will EU-Mitglied werden, sie orientiert sich am Westen, die wirtschaftlichen Beziehungen sind sehr eng. Da wird sie nur wegen eines Journalisten keine solche Krise riskieren. Aber wir haben gesehen: Es gibt nichts, das Erdogan nicht tun würde, um an der Macht zu bleiben. Denn er weiß eines genau: An dem Tag, an dem er sie verliert, erwartet ihn kein Ruhesitz in Marmaris, sondern die Haftanstalt in Silivri Nr. 9, wo immer noch viele meiner Kollegen einsitzen.
Sie bezeichneten sich selbst als „politische Geisel“. Wie bewerten Sie heute die damalige Rolle der deutschen Regierung?
Ich habe die deutsche Türkeipolitik auch vor meiner Verhaftung kritisiert – und heute noch habe ich einige Kritikpunkte. Aber ich käme mir komisch dabei vor, der Bundesregierung vorzuwerfen, nicht genug für mich unternommen zu haben. Soweit ich das einschätzen kann, hat sie sich sehr engagiert. Es gab allerdings auch einen immensen Druck der deutschen Öffentlichkeit.
Ihr Gefängnisaufenthalt bedeutete ein abrupter Freiheitsentzug – einige Entbehrungen mussten Sie verdauen. Als Sie freigelassen wurden, wollten Sie die Türkei dennoch nicht verlassen. Man musste Sie dazu überreden. Warum?
Der damalige Außenminister Sigmar Gabriel sagte in dieser Situation zu meiner Frau Dilek: „Sie lassen ihn sofort frei. Die einzige Bedingung lautet, dass er sofort das Land verlässt. Dafür schicke ich Ihnen ein Flugzeug. Wer würde so etwas ablehnen?“ Dileks Antwort: „Deniz. Der könnte das ablehnen.“ Ich dachte nämlich: „Wenn es diesem Mann gerade passt, dann werde ich verhaftet. Und wenn es ihm gerade passt, werde ich freigelassen und soll zu alledem nichts sagen?“ Außerdem war das auch eine emotionale Sache: Ich lebte seit zwei Jahren in der Türkei, hatte dort meine Wohnung, meine Arbeit, Freunde, meine Katze. Dann hatte man mir all das gewaltsam weggenommen. Dieses Leben wollte ich zurück.
Wie hat man Sie denn überredet?
Meine Frau sagte zu mir: „Du willst nicht, dass das passiert, was die wollen. Aber dadurch verhindert du auch das, was wir wollen.“ Das hat mich nachdenklich gemacht. Zudem war mein Vater in Deutschland schwer krebskrank. Ich hätte noch ein paar Monate im Gefängnis bleiben können. Aber vielleicht hatte mein Vater keine paar Monate mehr. Tatsächlich ist er vier Monate nach meiner Freilassung gestorben.
Sie haben in Ihrem Buch beschrieben, wie Sie Folter und Misshandlungen während Ihrer Haft erlebt haben. Zwar haben Sie anschließend Strafanzeige erstattet, aber darüber nicht öffentlich gesprochen. Haben Sie versucht zu verhindern, dass die Einzelheiten dieser Gräuel politisch instrumentalisiert werden könnten?
Ich habe damit aus zwei Gründen gewartet: Zum einen lief zum Zeitpunkt meiner Freilassung noch das Gerichtsverfahren, in das ich nicht eingreifen wollte. Der zweite Grund: Die Folter und der Missbrauch waren systematisch. Zunächst wurde ich eingeschüchtert und gedemütigt, dann steigerte sich die Gewalt: Am zweiten Tag schlugen sie mir auf meine Brust und den Rücken, am dritten Tag ins Gesicht. Ich war ihrer Willkür ausgeliefert, jeden Tag hätten sie noch einen Schritt weitergehen können. Es waren immer dieselben sechs Gefängniswärter, die Gewalt angewendet haben. Aber ohne das Wissen des Gefängnisdirektors hätten sie das niemals tun können. Ob er selbst den Befehl gegeben hat? Das kann ich nicht mit Sicherheit sagen, halte es aber für unvorstellbar, dass er so eigenmächtig in einem Fall gehandelt hat, den der Präsident zur Chefsache erklärt hat.
Das Ganze wurde also von oben befohlen. Ich vermute, dass sie Deutschland zu weiteren Reaktionen provozieren wollten, um damit Wahlkampf zu machen. Darum wollten sie womöglich, dass wir das sofort öffentlich machen. Und genau darum haben wir darauf verzichtet. Der richtige Ort dafür, das öffentlich zu machen, war der Gerichtssaal. Das war der Ort zu sagen: Ich wurde vielleicht auf Veranlassung, ganz sicher aber unter der Verantwortung des Staatsoberhaupts dieses Landes gefoltert.
Das Interview führte Gezal Acer.