DR. KAMAL SIDO / NAHOST-REFERENT DER GESELLSCHAFT FÜR BEDROHTE VÖLKER (GFBV)
Jedes Jahr am internationalen „Tag zur Beendigung der Strafl osigkeit bei Verbrechen gegen Journalisten“ (2. November) erinnern wir an das Schicksal von Journalistinnen, die in Haft oder frei sind, aber verschiedensten Bedrohungen bis hin zum Mord ausgesetzt werden. An diesem Tag machen wir auf die weltweit niedrige Verurteilungsrate für Gewaltverbrechen gegen Journalistinnen und Medienschaffende aufmerksam. Denn die Täter kommen oft frei davon, wenn sie Journalistinnen angreifen. Nur jedes zehnte Verbrechen wird aufgeklärt und geahndet. Dies führt dazu, dass junge Menschen sehr genau überlegen, bevor sie sich für die Arbeit als politische Journalistin oder politischer Journalist entscheiden. Die Arbeit in diesem Bereich ist aber von großer Bedeutung. Medienschaffende spielen hier eine entscheidende Rolle beim Informieren und Beeinfl ussen der Öffentlichkeit zu wichtigen gesellschaftlichen Themen. Die Straffreiheit für Angriffe auf Medienschaffende hat besonders schädliche Auswirkungen auf das öffentliche Bewusstsein. Weltweit nehmen Angriffe auf Medienschaffende zu. Diese Angriffe reichen von Cyber-Mobbing über illegale Inhaftierungen bis hin zu Mord. Veranlasst werden sie durch die Regierungen der Länder, aus denen Exilantinnen, auch oft Medienschaffende, stammen. So defi niert Freedom House den von Menschenrechtlerinnen geprägten Begriff Transnational Repression (dt. Transnationale Unterdrückung). Gründe für die Zunahme dieser im 21. Jahrhundert sind vor allem der technische Fortschritt, die Kooperation zwischen Staaten gegen Migrantinnen und der Mangel an internationalen Richtlinien. Autoritäre Staaten nehmen Aktivitäten der Exilantinnen als Bedrohung für das von ihnen aufgebaute System im Heimatland wahr. Folglich greifen sie auf transnationale Unterdrückung zurück, um Exilantinnen einzuschüchtern und Exempel zu statuieren. Freedom House schätzt in einem Bericht vom Februar 2021, dass weltweit 3,5 Millionen Menschen von transnationaler Unterdrückung betroffen sind.
Formen der transnationalen Unterdrückung können in vier Kategorien eingeteilt werden:
1) Direkte Angriffe wie physische Angriffe, Verschleppungen und Attentate
2) Die Mithilfe anderer Länder, die sich zum Beispiel durch unrechtmäßige Abschiebungen beteiligen
3) Mobilitätsbeschränkungen wie die Annullierung von Reisepässen, die zu Inhaftierungen führen kann
4) Drohungen aus der Ferne, zum Beispiel durch Cyber-Mobbing oder die Bedrohung Angehöriger im Heimatland. Auch die von der Türkei ausgehende transnationale Unterdrückung hat sich dem weltweiten Trend angeschlossen und stark zugenommen. Waren es früher Kurdinnen insbesondere aus den Reihen der verbotenen kurdischen PKK, die vom türkischen Geheimdienst mit Hilfe „freundlicher Staaten“ in die Türkei verschleppt oder entführt worden sind, so sind es heute vermehrt die Anhängerinnen des im amerikanischen Exil lebenden türkischen Predigers Fethullah Gülen.
Die türkische Regierung unter Recep Tayyip Erdoğan wirft Gülen vor hinter dem Putschversuch von 2016 zu stecken, der einen enormen und geographisch weitreichenden Anstieg der transnationalen Unterdrückung durch die türkische Regierung auslöste: In 31 Ländern, sowohl in Asien, Afrika, im Nahen
Osten, Nord- und Südamerika und Europa wurden Exilantinnen Opfer dieser. Während Russlands Kampagne der transnationalen Unterdrückung stark auf Attentate ausgerichtet ist und China sich allen vier Kategorien der transnationalen Unterdrückung bedient, ist die Türkei führend was Verschleppungen angeht. In den letzten Jahren richteten sich die Angriffe der türkischen Regierung größtenteils gegen Personen mit Verbindung zur Gülen-Bewegung. Auch diese Bewegung wird von der Regierung in der Türkei als „terroristisch“ eingestuft und für den Putschversuch 2016 verantwortlich gemacht. In Nachforschungen von Freedom House konnten 58 Fälle von Verschleppungen, willkürlichen Festnahmen und Folter in 17 Ländern seit 2014 identifiziert werden. Zahlen der UN und der türkischen Regierung selbst sind jedoch circa doppelt so groß, womöglich da sich viele Fälle außerhalb der Öffentlichkeit abspielen. Ohne klaren legalen Prozess werden Exilantinnen in ihrem Aufenthaltsland festgenommen und an die Türkei ausgeliefert. Derartige Fälle ereigneten sich beispielsweise im Libanon und in Kirgisistan in Zusammenarbeit mit den jeweiligen Regierungen.
Doch die Türkei verheimlicht ihre Entführungskampagne nicht. Die Opfer werden stolz in den Medien präsentiert, denn die Festnahmen werden als legitime Mittel der Terrorismusbekämpfung dargestellt. So veröffentlicht die Pro-Regierungs-Zeitung Daily Sabah regelmäßig Artikel zur Entführungskampagne unter der Rubrik War on Terror. Auch die Gülen-Bewegung wurde nun ebenfalls als Terrororganisation eingestuft, womit diverse Formen der transnationalen Unterdrückung von Mitgliedern oder scheinbar Verbündeten der Bewegung gerechtfertigt werden. Alle 110 Fälle physischer transnationaler Unterdrückung durch die türkische Regierung, die Freedom House feststellen konnte, stehen in Verbindung mit einem Terrorismusvorwurf.
Abschließend möchte ich auf Praktiken der türkischen Polizei im Umgang mit inhaftierten Journalist*innen aufmerksam machen. Der Journalist Ibrahim Karayeğen wurde während der U-Haft im Polizeipräsidium in Antalya von Polizisten beschimpf und bedroht. Er wurde in einen Raum gesperrt, in dem Fäkalien waren. Ihm wurde kein Gang zur Toilette erlaubt. Während der Haftzeit durfte der chronisch kranke Mann drei Monate keinen Arzt sehen. Er bekam seine Medikamente nicht und seine Nieren funktionierten nur noch zu 45 Prozent.
Nach einer OP wurde der Mann im Winter nackt in einen Raum
bei offenem Fenster gesteckt, „Sie wollten, dass ich sterbe,“ sagte er. Nach der schnellen OP musste er wieder in seine Gefängnis-Zelle, obwohl er nicht einmal allein aufs WC konnte. Die Mitinsassen mussten ihm sieben Tage beim Toilettengang helfen. Sein Rechtsanwalt durfte ihn nur selten besuchen. Bei
den Besuchen durch den Rechtsanwalt war immer ein Wächter dabei, der die Gespräche aufzeichnete. Auch seine Frau durfte ihn nur selten besuchen. Auch diese Gespräche wurden aufgezeichnet. Die Inhalte dieser Gespräche waren auch Gegenstand der Anklage.
Ähnliches erlebte der Journalist Yüksel Durgut. Während seiner Haft musste er am Herzen operiert werden. Nach seiner OP wurde er in ein Zimmer gesteckt, in dem Kranke mit ansteckenden Krankheiten lagen. „Das Bett war verdreckt und die Laken waren mit Blut verdreckt“, sagt der Journalist.