Der Fotojournalist Wagner Ribeiro bei der Berichterstattung über antifaschistische Proteste in São Paulo am 7.September 2017 (Brasiliens Unabhängigkeitstag). Foto: Rodrigo Pivas Der Beruf des Fotojournalisten in Brasilien ist ein Metier für leidenschaftliche Geschichtenerzähler. Diese Feststellung gilt insbesondere für Profis, die über Proteste und Konflikte berichten. Die Arbeitsausrüstung ist extrem überteuert, die Risiken des Jobs sind groß und die Bezahlung ist absurd niedrig.
Die Arbeit ist in den letzten fünf Jahren aus zwei Gründen komplexer geworden. Erstens ist die Zahl der Menschen, die Fotos machen, stark gestiegen. Zweitens wurden im Zuge des Wahlkampfs und der Ernennung von Jair Bolsonaro zum neuen Präsidenten des Landes Fotojournalisten von der Polizei und von Bürgern, die ihn unterstützen, angegriffen.
WER IST AUF DER STRASSE, UM PROTESTE ZU FOTOGRAFIEREN?
Wenn es bei Protesten zu Spannungen kommt, sind Fotojournalist:innen von kleinen, mittleren und großen Zeitungen, Zeitschriften und Internetportalen vor Ort. Das bedeutet, dass die angeheuerten Profis sich weitgehend auf die wirtschaftliche und rechtliche Unterstützung von Redaktionen und ihren Zuarbeiter:innen verlassen können.
Die größte Gruppe sind die unabhängigen Fotojournalist:innen. Diese Profis stehen vor der Herausforderung, ihre Arbeit ohne das Siegel eines Nachrichtenunternehmens, ohne finanzielle oder rechtliche Unterstützung erledigen zu müssen. Noch in der Hitze des Gefechts versuchen sie, die Fotos für Bildnachrichten zu verkaufen, und erhalten im Durchschnitt 15 R$ (etwa 3 US$) pro Foto. Wenn sie sie überhaupt verkaufen können.
DAS PARADOXON DER PRESSEIDENTIFIKATION
Die Polizei und die Bürger der rebellischen Rechten sowie die Anhänger des Präsidenten kennen die Gesichter der Fotojournalist:innen. Mit anderen Worten, sie wissen, wohin sie ihre Waffen, Fäuste und verbalen Angriffe richten müssen. Wenn sie sich als Fotojournalist zu erkennen geben, bringen sie sich möglicherweise in eine noch gefährlichere Situation. Wenn die einzige Möglichkeit darin besteht, unbemerkt zu arbeiten, machen sich viele Fachleute nicht einmal die Mühe, eine Sicherheitsausrüstung zu tragen.
Dies ist ein Paradoxon des Berufs in Brasilien und vielleicht weltweit. Einerseits ist die Schutzausrüstung unerlässlich, um die körperliche Unversehrtheit der Fachleute zu bewahren. Dennoch kann das Wort „Presse“ auf Helmen und Sicherheitswesten eine Zielscheibe auf dem Kopf oder auf dem Rücken von Fotojournalist:innen sein. Vor diesem Hintergrund haben die Fotojournalist:innen neue Mittel für ihre Arbeit entwickelt.
Statt Helme und Westen mit dem Aufdruck „Presse“ zu verwenden, haben sich die Fotojournalist:innen für abnehmbare Klettverschlüsse entschieden, die bei Bedarf leicht entfernt werden können. Kurioserweise wurde diese Idee von einer Strategie abgekupfert, die von der brasilianischen Polizei angewendet wird.
Obwohl es illegal ist, entfernen einige Polizeibeamte bei Protesten ihre Abzeichen von ihren Uniformen, um zu verhindern, dass Angreifer leicht identifiziert werden können. Dies hält Fotojournalist:innen davon ab, den Missbrauch von Gewalt und sogar physische Gewalt gegen Fotojournalist:innen zu dokumentieren, was dazu führt, dass noch weniger Fälle in die Berichterstattung aufgenommen werden.
ZU WENIG BERICHTERSTATTUNG ÜBER FÄLLE VON GEWALT
Ich habe bei der Journalistengewerkschaft Arfoc (Brasilianischer Verband der Foto- und Filmreporter) und Abraji (Brasilianischer Verband für investigativen Journalismus) nach Daten über Gewalt gegen Fotojournalist:innen gesucht. Nur Abraji hat einige Informationen zur Verfügung gestellt.
Nach Angaben von Abraji gab es im Jahr 2021 in Brasilien 22 Fälle von Aggression gegen Fotojournalist:innen und Kameraleute. Es gibt einen Grund dafür, dass die Daten über Angriffe auf Fotojournalist:innen und Kameraleute nur für dieses Jahr verfügbar sind. Nach Angaben von Katia Brembatti, der Direktorin der Einrichtung, wurden Fotojournalist:innen in den Vorjahren zusammen mit anderen Medienschaffenden gezählt.
Bei der Analyse der von Abraji gemeldeten Fälle,die sich auf die Arbeit des Verfassers dieses Artikels vor Ort stützt, kann man eine Reihe von Gewalttaten gegen Fotojournalist:innen feststellen, die nicht in der Shortlist der Institutionen enthalten sind. Abgesehen davon, dass die Journalistengewerkschaft und Arfoc keine genauen Daten liefern, ist die Tatsache, dass über Gewalt gegen Fotojournalist:innen und Kameraleute in Brasilien zu wenig berichtet wird, sehr beunruhigend.
DIE FOTOJOURNALIST:INNEN SIND DIE ERZÄHLER DER FAKTEN
In Brasilien sind Fotojournalist:innen und Kamera leute in den Print- und Digitalmedien die Berufsgruppen, die am ehesten von Gewalt betroffen sind, wenn sie über Proteste und Konflikte berichten, da sie sich an vorderster Front befinden. Die Fotojournalist:innen übermitteln die Informationen vom Schauplatz an die Text-Berichterstatter:innen, die in den Redaktionen die Geschichten schreiben.
Der Fotojournalist ist somit der Erzähler der geschriebenen Fakten. Daher müssen Medien, öffentliche Organisationen und Unternehmen des Sektors nach Mechanismen suchen, um die Sicherheit von Fotojournalist:innen und Kameraleuten zu gewährleisten. Dies ist eines der dringenden Probleme, denen wir uns in Brasilien und weltweit stellen müssen. Die Leidenschaft der Fotojournalist:innen reicht nicht aus, um gute Geschichten zu erzählen. Sie brauchen auch Schutz und menschenwürdige Arbeitsbedingungen.Wagner Ribeiro ist ein brasilianischer Professor und Fotojournalist. Er hat für verschiedene Zeitungen, Zeitschriften und das Fernsehen gearbeitet und über Proteste, Konflikte und humanitäre Krisen in Lateinamerika, Europa und dem Nahen Osten berichtet.